Arbeitskreis "Krankenhaus- & Praxishygiene" der AWMF
Working Group 'Hospital & Practice Hygiene' of AWMF

"Evidenz"-basierte Medizin und anerkannter Stand der Wissenschaft

von H. Reinauer*

"Denn eben wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten lässt sich trefflich streiten,
mit Worten ein System bereiten,
am Worte lässt sich trefflich glauben,
von einem Wort lässt sich kein Jota rauben".
     (Goethe, Faust 1)

In den 90er Jahren ist ein neuer Begriff in der Medizin aufgetaucht, der einen Paradigmawechsel in der Bewertung von klinischen Studien und damit in der Qualität der Krankenversorgung versprach. Es ist die "Evidenz"-basierte Medizin (ursprünglich: evidence based medicine). Die Väter der "evidence based medicine" waren Biometriker, die zum Teil mit Recht die Qualität von einzelnen klinischen Studien beanstandet hatten. Die Qualität von klinischen Studien wurde nach einem vorgegebenen Schema in "Evidenzgrade" eingeteilt, eine Einteilung, die durchaus Sinn und auch Effekt in der medizinischen, insbesondere der vorwiegend pharmakotherapeutischen klinischen Forschung hatte.

Der Begriff "evidence based medicine" (ebm) hat sich mit der Zeit gewandelt. SACKETT hatte die Definition 1996 und 2000 verschieden gefasst (vgl. Abb. 1). Aufgrund der Definition aus dem Jahre 1996 war man geneigt, die "Evidenz"-basierte Medizin mit dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Patientenversorgung gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung besteht aber nach der Definition aus dem Jahre 2000 nicht mehr. Denn nunmehr ist die beste wissenschaftliche Erkenntnis gepaart mit der klinischen Erfahrung des Arztes und mit den Patientenwünschen zu vereinen, wobei die klinische Erfahrung und die Patientenwünsche jeden Versuch einer engen Definition sprengen: Die klinische Expertise des einzelnen Arztes kann sehr unterschiedlich sein, und die Patientenwünsche sind ohnehin vielfältig.

Die Terminologie des Begriffes "evidence", auf die dann die Medizin fußen soll, macht Probleme (Abb. 2). Sowohl im englischen als auch im deutschen bedeutet der Begriff "evidence" eher eine Empfindung, ein Glaube; und POPPER hat es mit Recht betont - "evidence" hat mit der Begründung wissenschaftlicher Sätze nichts zu tun (Abb. 2).

Damit kommen wir konsequenterweise zu dem Schluss, dass der allgemein anerkannte Stand des Wissens in der Medizin nur wenig mit dem Begriff "evidence based medicine" zu tun hat, die offensichtlich durch die differente klinische Expertise und die sehr unterschiedlichen Patientenwünsche zu einem manipulierbaren Begriff geworden ist. Diese Manipulierbarkeit scheint bestimmten gesundheitspolitischen Kreisen sehr genehm zu sein. Denn jetzt könnte man die Patientenversorgung trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse so gestalten, dass diese "ausreichend" und "zweckmäßig" ist und das "Maß des Notwendigen" nicht überschreitet.
Der Angriff auf die ärztlichen Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften in der AWMF kam aus der Gesundheitspolitik und von den Vertretern der Krankenversicherungen. Das Argument war, es fehle die evidence-basierte Grundlage bei der Erstellung der Leitlinien. Es war zu vermuten, dass die in den ärztlichen Leitlinien vorgegebenen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen heruntergebrochen werden sollten auf das ökonomisch Machbare, damit die Leistungen wirtschaftlich erbracht werden können.

Das Konzept der "ebm" ist - abgesehen vom fehlgedeuteten Begriff "Evidenz" - in der Medizin nicht neu (Abb. 3) und kann einen Paradigmenwechsel auch nicht auslösen, denn diese Anforderung des Handelns auf der Basis wissenschaftlicher Grundlagen galt auch schon vorher, wenn man den Begriff "Evidenz" als "Stand des Wissens und der Erfahrung" versteht.

Auch die Qualitätsbeurteilungen von klinischen Studien nach den "Evidenzgraden" haben seit 1994 Wandlungen durchgemacht (Abb. 4). Die höchste Hierarchie für klinische Studien im Bereich der Pharmakotherapie hatte auch schon vor "ebm" die randomisierte Doppelblindstudie, die aber weder in den chirurgischen Fächern noch in den Grundlagenfächern oder in der Labordiagnostik angewendet werden kann. Trotzdem haben sich ebm-Vertreter hinreißen lassen, einheitliche "Evidenzgrade" für fast alle Fächer zu definieren.

Die Gründe für den Bedarf an "Evidenz"-basierter Medizin waren von SACKETT et al. (2000) definiert worden (Abb. 5).

Diese Gründe kann man nahtlos auch für die vorhandenen ärztlichen Leitlinien anwenden, denn die ärztlichen Leitlinien sind Hilfen zur Entscheidungsfindung und sollen den praktizierenden Ärzten helfen, ihre diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern. Wozu dann der Begriff "ebm"-Leitlinien?

Die Kritik an der "evidence based medicine" ist bereits im Entstehungsland von CHARLTON und MILES (1998) treffend vorgebracht worden, offensichtlich aber ohne viel Effekt (Abb. 6).

Diese Kritik wird ergänzt (Abb. 7).

Zusammenfassung

  1. Der anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft und Forschung ist nicht identisch mit "ebm". "ebm" ist ein manipulierbarer Begriff, weil zwei Elemente, nämlich die individuelle klinische Expertise und die Patientenwünsche, inhaltlich nicht einheitlich fassbar sind.
  2. Die "Evidenz"-Grade sind ein geeignetes Verfahren, um die Qualität von klinischen Studien hinsichtlich Methodik formal zu beurteilen.
  3. "ebm" kann die fachspezifische Bewertung von Studienergebnissen hinsichtlich der Relevanz für die Patientenversorgung nicht leisten.
  4. Die fachspezifische Bewertung von Studienergebnissen erfordert ärztliche und wissenschaftliche Erfahrung (vgl. SACKETT!), die v. a. im Konsensusverfahren ermittelt werden kann. Ärztliche Leitlinien als Hilfen zur Entscheidungsfindung stellen den allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse dar, verbunden mit der besten klinischen Expertise. Diese wird durch den Konsensusprozess eingebracht.

* Prof. Dr. med. Hans Reinauer, Klinische Biochemie, Düsseldorf; 1991 - 2000 Präsident der AWMF

Literatur:

  1. Bock KD (2001): Die Evidenz (in) der Evidence-Based Medicine. Med. Klinik 96, 300-304.
  2. Charlton BG, Miles A (1998): The rise and fall of EBM. Quarterly Journal of Medicine, 91, 371-374.
  3. Kosing A (1985): Wörterbuch der Philosophie. Das europäische Buch, Berlin.
  4. Longman (1995): Longman Dictionary of Contemporary English (3. Ausgabe), Langenscheidt-Longman, München.
  5. Popper K (1994): Logik der Forschung (10. Aufl.), Verlag J.V.B. Mohr, Tübingen.
  6. Rogler G, Schölmerich J (2000): "Evidence-Based Medicine" - oder: "Die trügerische Sicherheit der Evidenz". Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift 125, 1122-1128.
  7. Sackett DL (2000): Was ist evidenzbasierte Medizin? http://www.ebm-netzwerk.de/was_ist_ebm.htm. Deutsches EBM-Netzwerk.
  8. Sackett DL, Rosenberg, WMC, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS (1996): Evidence-based medicine: what it is and what it isn't. British Medical Journal 312, 71-72.

Erstellungsdatum:

02/2004

Letzte Überarbeitung:

12/2009